Sibylle Lewitscharoff - Blumenberg
Ganz genau wollte sie wissen, wie der Schreibtisch ausgesehen und was auf ihm gelegen hatte. Dazu gingen Zeige- und Mittelfinger anmutig an der Luft spazieren. Ob es muffig im Zimmer gewesen war oder kühl. Wie sie sich begrüßt hätten. Jetzt machten die Mittelfinger kreiselnde Bewegungen. Was hatte an der Wand gehangen? Lauter Fragen, für die Gerhard Antworten improvisieren mußte, die in seinem Inneren wie Bläschen auftauchten und mit einem lautlosen Kichern zerplatzten, bevor er — verhältnismäßig korrekt — darauf einging. Zwar hatte er einige Ausführungen Blumenbergs im Gedächtnis, den intensiven Blick des Professors, sein lokkeres Dasitzen im Sessel, seine generösen Gesten, auch daß er aufgestanden war, zur Schrankwand ging und aus einem Schubfach ein Suhrkamp-Bändchen über den Nemëischen Löwen holte und ihm schenkte, viel mehr aber nicht. Für Isa setzte ihn Gerhard hinter den Schreibtisch, erfand Türme von Büchern auf diesem Schreibtisch und eine kleine Schneise, aus der Blumenberg hervorguckte, listig wie eine Maus und an einem Brötchen nagend. Muffig war es im Zimmer nicht gewesen, eher frisch; auf seine Nase war Verlaß.
Und an der Wand? Isa saß inzwischen im Schneidersitz da und hielt die Hände wie flache Schalen auf den Knien.
An der Wand, tja, an der Wand — Gerhard wollte erst sagen: eine ellenlange Schrankwand und sonst nichts, aber dann war ihm das zu fade —, an der Wand hatte ein Plakat von Patinir gehangen, die Heilige Familie auf der Flucht, während einer Rast mit weißen Säckchen und einem Korb im Grünen sitzend. Dahinter eine phantastisch schöne Berglandschaft mit gewundenen Wegen, direkt ins Blaue hinauf.
Er war jetzt so überzeugt von diesem Patinir, als wäre er selbst geradewegs von einer Bergwanderung aus dem Heiligen Gebiet zurückgekehrt und hätte seiner Freundin einen ungesäuerten Fladen aus einem der Säckchen überreicht.
Es ist noch mal gutgegangen, behauptete Gerhard, der Professor hat großmütig darauf verzichtet, mich zu fressen, als er mit seinem Brötchen fertig war.
Isa lachte, sackte dann aber in sich zusammen. Sie selbst würde es niemals wagen, einfach so zu Blumenberg in die Sprechstunde zu platzen, sie würde schon an der Tür tot umfallen, jedenfalls kein Wort herausbringen, krebsrot anlaufen oder bloß stammeln. Gerhard korrigierte sie, er sei ja nicht einfach so zur Tür hereinspaziert, er habe sich vorher schriftlich angemeldet, alles weitere sei dann wie am Schnürchen gegangen. Der Professor sei weniger schwierig, als alle Welt von ihm glaube. Man müsse bloß wissen, was man von ihm wolle, und zwar möglichst präzise.
Das ist es ja, sagte Isa versonnen, wenn man nur wüßte was.
In der Gemeinschaftsküche gab es dann Abendessen. Im Nu war die Restwirkung des Joints verflogen. Salzlose, zerkochte Spaghetti schwammen in wäßriger Tomatensauce. Biggi hatte gekocht. Biggi war die Blasse, Mürrische, mit den Sorgenfalten auf der Stirn, die unentwegt schwätzte, alles, was in Münster, in Amerika und in der Bundesrepublik vorging, kleinschwätzte, dabei Isa unentwegt belehrte, immer mit einem scheelen Blick auf ihn. Philosophie hatte sich längst überlebt, philosophische Systeme waren von Männern aufgeführte Gebäude, um die Frauen geistig in Schach zu halten, überflüssig wie ein Kropf. (Biggi studierte Pädagogik.) Fakten regierten die Welt. Das unterschiedliche Lohnniveau von Männern und Frauen — ein Fakt! Daß die Mädchen im Bildungssystem zu kurz kamen — ein Fakt! Und natürlich, daß die meisten Männer Vergewaltiger waren, ob sie’s nun zugaben oder nicht. Ein Faktfakt. Dabei sah sie Gerhard kampflustig in die Augen, konzentrierte sich aber schnell wieder auf Isa, um sie vor diesem Vergewaltiger zu schützen, den im Moment allerdings der Mumm verlassen hatte, so ineinandergefaltet, wie er am Küchentisch saß. Alle ihre Sorgen schienen auf Isa ausgerichtet, und die ließ sich das unerklärlicherweise gefallen.
Wobei Isa ihr diese Sorgen wenig dankte. Eingeschlossen in eine unsichtbare Blase, zerpflückte sie mit der linken Hand Brot und schob winzige Stückchen davon in den Mund. Mit den Krümeln, die um ihren Teller verstreut lagen, hätte man ein Zwitscherbataillon Spatzen sättigen können. Sie hatte gar nicht zugehört, tauchte aber aus ihrer Blasenwelt, in die sie mit halb gesenkten Lidern weggeglitten war, wieder auf und brachte einige ihrer abenteuernden Sätze mit, die Biggis Konzept über den Haufen warfen, wenn auch nicht für lange: Wer sagt’s denn, daß wir alle füreinander geschaffen wären (für den Augenblick war man verwirrt, wer derjenige war, der so etwas gesagt haben sollte); es hilft nichts, wenn wir einfach so weitermachen wie bisher; wir müssen alle finalen Rezepte überwinden, schließlich sind wir ja nur Vorzeichnungen von dem, was aus uns werden soll. Man muß den Absolutismus der Wirklichkeit abbauen und zu einer Figur der schönen Resignation werden.
Dazu hob sie mit der Gabel eine einzelne Nudel in die Höhe und betrachtete sie versonnen.
Plötzlich fing sie an zu kichern: Der Feminismus verleibt sich die Männer ratzekahl ein, jammerschade, irgendwann ist von den vielen kleinen Wimmelmännlein nichts mehr übrig. Dann wurde der Ton verschwörerisch: Wir müssen sehr, sehr achtgeben, damit uns der letzte Mann nicht auch noch von Bord geht; wobei der Ton gleich wieder ins Heitere umschlug: Vielleicht sind dann nur noch die Philosophen übrig, aber deren Interesse an Frauen ist nur so-là-là.
Gerhard fühlte sich unwohl wie schon lange nicht mehr, er verspürte nicht die geringste Lust zu diskutieren, weder mit einer soziologischen Autistin noch einer à la Blumenberg. Eine käsige Ruhe breitete sich in ihm aus. Deutliche Zweifel standen ihm auf der Stirn geschrieben. Er drehte den Kopf weg, sah auf den nicht sehr sauberen Fußboden und fütterte Biggis Kater mit einem Tropfen Tomatensauce, den er sich mit dem Löffel auf einen Finger gegeben hatte. Widerspruch hätte viel zuviel Energie gekostet, Widerspruch stieß auf taube Ohren. Er genoß die rauhe Zunge des Katers auf seinem Finger. Um das verrannte Gespräch anderswohin zu lenken, drehte er den Kopf wieder in die Runde und schlug etwas lau vor, er werde nächste Woche einen schönen Rinderbraten besorgen und Spätzle für alle kochen, wozu Isa mit den Fingerspitzen applaudierte.
Immerhin, auch Rena begrüßte die Idee. Rena war anders als Biggi, ein eher unabhängiger Typ, einsilbig. Sie war etwas pummelig, hatte ein hübsches Gesicht, lockiges, dunkles Haar. Gerhard störte sich an dem Geruch, der sie umgab. Rena roch schweißig, und das war ihm so zuwider, daß er maximalen Abstand zu ihr hielt. Im Augenblick, da er den Vorschlag mit dem Rinderbraten gemacht hatte, bereute er ihn. Absurd, für Leute kochen zu wollen, die ihm dermaßen auf die Nerven gingen (Isa natürlich ausgenommen).
Die eigentliche Überraschung des Abends kam aber, als Isa ans Telefon in den Flur gerufen wurde und Rena in ihrem Zimmer verschwand. Biggi setzte sich neben ihn und nahm ihren Kater auf den Schoß, der sofort sein Schnurrwerk anwarf. Biggis Hand wanderte zögernd nach Gerhards Hand hin, einer schönen Hand mit langen braunen Fingern, geschmückt von einem Siegelring, die ruhig auf der hölzernen Tischplatte lag, und es sah so aus, als wolle ihre schmale weiße Hand über seine Finger streichen; sie hielt aber kurz zuvor inne. Währenddessen starrte der pausbäckige Kater unverwandt auf das Fingergekrabbel, als wartete er auf den rechten Moment, mit einem Pfotenschlag dreinzufahren.
Sie wisse, er sei ein lieber Kerl, auf den Verlaß wäre. Es tue ihr leid, den ganzen Abend über dummes Zeug geredet zu haben. Sie habe sich über einen ganz anderen Mann geärgert, und dabei sei in ihrem Kopf alles durcheinander gegangen. Nicht weiter wichtig. Wichtig sei bloß, daß sie alle gemeinsam auf Isa aufpassen müßten. Daß er einen guten Einfluß auf sie habe, habe sie gleich gemerkt, einen sehr guten sogar. Jetzt müßten sie alle zusammenhalten und eben das Beste bewirken.
Gerhard war von dieser Wendung überrumpelt; vor Verlegenheit wurde er rot und brachte als Antwort wenig mehr als ein undeutliches Versprechen zuwege. Am meisten überraschte ihn Biggis Gesicht. Während der kleinen vertraulichen Ansprache war alles Gespannte und Mürrische daraus verschwunden. Als Isa wieder zurückkehrte, sprang der Kater vom Schoß und stelzte mit steifen Beinen zur Küche hinaus.
Auch wenn sich die Verhältnisse vielleicht zum Besseren gewendet hatten, war es klüger, nicht anzurufen. Die Haustür fiel mit einem metallischen Knall hinter ihm zu, als wolle sie ihn für immer aussperren. Draußen war es warm. Er verspürte keine Lust, noch einmal umzukehren und das Fahrrad aus dem Keller zu holen, schlug den Weg Richtung Innenstadt ein, um Zeitung zu lesen und einen Kaffee zu trinken.
Als er in die Rothenburgstraße einbog, kam jemand auf dem Fahrrad daher. Eine Erscheinung. Ganz in Weiß, in einem flatternden Gewand, das sich leicht in den Speichen verfangen konnte, kam sie dahergefahren, mit erhobenem Kopf. Auf den ersten Blick hatte er sie gar nicht erkannt, weil sie sonst kaum Weiß trug, höchstens ein weißes T-Shirt oder ein weißes Männerhemd. Er wedelte mit den Armen, um sie zu stoppen, und sie bremste tatsächlich.
Wo geht’s lang?
Ihr Gesicht war gerötet. Sie sah ihn, ausgiebiger als nötig, mitleidig an und sagte dann in einem reichlich überspannten Ton: Dem Feld der Ehre zu.
Pause.
Sie musterte ihn, als habe er etwas ausgefressen. Er war einfach zu beschränkt, um etwas von den wesentlichen Dingen zu begreifen, von denen sie erfüllt war.
Gehen wir in ein Café und trinken was zusammen? fragte er mutlos, denn es war wenig wahrscheinlich, daß sie von ihrem Vorsatz, welchen auch immer sie gefaßt haben mochte, ablassen würde.
Isa senkte den Kopf und runzelte die Stirn wie ein Forscher, der eine schwere Nuß zu knacken hatte.
Das ist eine ganz und gar abwegige Idee, flüsterte sie, abwegig und unpassend.
Wieso abwegig?
Aus Gründen, sagte sie ernst, ich muß fahren. Wonach sie den Kopf hob, ihn strahlend ansah und einen Satz hinterherschickte, der ihm aus der letzten Vorlesung irgendwie bekannt vorkam: Aller Ursorge enthoben, in den freundbesiedelten Schlaf.
Sprach’s, und trat wieder in die Pedale.
Er war alarmiert, stand wie verhext da, wußte kein Mittel, wie sie aufhalten, schon war sie zu weit weg, um im Laufen eingeholt zu werden. In der menschenleeren Stadt zeigte sich kein Taxi, das er hätte heranwinken können, um hinter ihr herzufahren. Ein Schild, auf das er zulief, weil er es von weitem für das Zeichen eines Taxistandes hielt, entpuppte sich von nahem als eine Anzeigetafel der Firma Löwenbräu.
Allumfassende Sorge
Es gab keine Möglichkeit, sich der Verpflichtung anders zu entledigen, als sie zu erfüllen. Eines alten Freundes wegen, dem er die Bitte nicht hatte abschlagen können, ihn noch ein letztes Mal zu sehen, mußte er nach Isenhagen. Es war Sonntag, und noch immer herrschte schönes Wetter, als er um die Mittagszeit losfuhr. Unterwegs fluchte er über die Abhaltung von der Arbeit. Seit Jahren hatte er sich keine so lange Autofahrt mehr zugemutet. Stunden würde ihn das Abenteuer kosten. Gerade von diesem Freund, der nun selbst in äußerster Dringlichkeit mit dem Phänomen der Zeitknappheit konfrontiert wurde, wäre zu erwarten gewesen, daß er seinen, Blumenbergs, prinzipiellen Kampf gegen die Zeitknappheit verstünde und darauf Rücksicht nähme. Waren ihm, dem Freund, etwa so viele Jahre während seiner Jugend geraubt worden? Hatte er, der Freund, sich je in einer aussichtslosen Aufholjagd befunden, die entrissene Zeit wieder hereinbringen zu müssen in ein anspruchsvolles Gelehrtenleben, und zwar unter fortwährender Anstrengung, so zu tun, als hätte es die geraubten Jahre nie gegeben? Man hörte offenbar nicht damit auf, ihm die Zeit zu stehlen.
Eine Weile war er am Waldrand von Hankensbüttel den Amtsweg entlanggefahren und kam nun in eine Gegend mit kleineren Häusern, umringt von Gärten, fand aber die Kurze Straße nicht. Hier mußte es irgendwo sein. Blumenberg parkte den Wagen, stieg aus und sah sich nach Leuten um, die er hätte fragen können.
Offenbar war spätnachmittags niemand in dieser Gegend unterwegs. Nicht einmal Radfahrer oder Sommerfrischler. In den Gärten zeigte sich kein Mensch. Aber doch, da, ziemlich weit entfernt, befand sich eine kleine schwarze Figur auf dem Gehweg. Beim Näherkommen machte sich Blumenberg Gedanken, wer diese einsame Figur wohl sei, bis er erkannte, daß er auf eine Nonne zuging, eine Nonne im schwarzen Gewand mit weißer Haube, die sich an irgendwelchen Büschen zu schaffen machte. Wahrscheinlich eine der Konventualinnen, die zum Kloster Isenhagen gehören, dachte Blumenberg.
Sie bemerkte ihn nicht, als er auf sie zuging, allzu beschäftigt, wie sie war, denn sie fuhrwerkte mit einer Gartenschere, die sie mit weiß behandschuhten Fingern umklammert hielt, energisch an einem Strauch herum, dessen üppig blühende Zweige über den Zaun hingen, während sie mit der anderen Hand den jeweils abzuschneidenden Zweig gepackt hielt, um ihn mit einer Geste des Unmuts zu Boden zu werfen.
Verzeihen Sie, sagte Blumenberg auf die höflichste und zarteste ihm mögliche Weise, dürfte ich Sie etwas fragen?
Mit einem Ruck drehte sich die kleine Person um; die Gartenschere kampfbereit gegen ihn gerichtet, funkelte sie ihn aus schwarzen Augen an.
Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich die Kurze Straße finde? fragte Blumenberg.
Wortlos wies die Nonne auf den Weg, den er gerade gekommen war, mit einer jähen Kopfdrehung, was wohl hieß, daß er die nächste Biegung nach rechts nehmen sollte.
Von der Nonne ging eine eigentümliche Anziehungskraft aus. So klein sie war (sie reichte ihm kaum bis an die Schultern) und so alt sie sein mochte (gewiß neunzig Jahre oder mehr) — Blumenberg hatte noch nie eine derartige Energie in einer Person versammelt gesehen.
Darf ich mich erkundigen, was Sie da tun? hörte er sich selbst sagen und wunderte sich, daß er eine Frage, die womöglich verwickelte Erklärungen auf den Plan rief, überhaupt gestellt hatte, blickte dabei auf die abgeschnittenen Zweige zu ihrer beider Füße und sah ihr wieder in die Augen.
Die Nonne hatte einen wunderbaren Alterskopf, flintscharfe Züge, eine sehr helle Haut, ihr Gesicht umrahmt von einer kompliziert gefältelten weißen Spitzenhaube, darunter lag ein ebenfalls weißer Spitzenkragen. Sie war — ihm fielen keine besseren Wörter dafür ein — eine ruhmreiche, gloriose Erscheinung.
Wie ich sehe, sagte Blumenberg, sind Sie in einem äußerst wichtigen Geschäft befangen, bei dem ich Sie nicht länger stören will.
Sie haben es erfaßt, sagte die Nonne.
Als er sich mit einem Abschiedsgruß zum Gehen wenden wollte, fragte sie: Wen haben Sie denn dabei?
Blumenberg drehte sich überrascht um — und Tatsache — der Löwe hatte ihn begleitet, war hinter ihm hergeschlichen, ohne daß es ihm aufgefallen war.
Er folgt mir seit zwei Tagen, sagte Blumenberg, aber für gewöhnlich bemerkt ihn kein Mensch.
So! Die Nonne stieß das S mit ungewöhnlicher Schärfe hervor: Dann handelt es sich um eine Auszeichnung!
Vielleicht. Da bin ich mir leider nicht so sicher, wie Sie es offenbar sind. Aber verraten Sie mir jetzt, was Sie hier tun, nun, da wir über meinen Begleiter auf nicht ganz herkömmliche Weise miteinander bekannt geworden sind? Ich zweifle nicht, daß Sie ernsthafte Geschäfte zu verrichten haben — übrigens: Blumenberg, mein Name.