Roald Dahl - Matilda
«Mein Name ist Florentine Honig», sagte Fräulein Honig. «Guten Abend, Frau Wurmwald.»
Frau Wurmwald glotzte sie an und fragte: «Was ist denn los?»
Niemand lud Fräulein Honig zum Sitzen ein, deshalb suchte sie sich einen Stuhl aus und nahm unaufgefordert Platz. «Heute», sagte sie, «war der erste Schultag Ihrer Tochter.»
«Das wissen wir», sagte Frau Wurmwald ziemlich gereizt, weil sie ihre Sendung verpaßte. «Ist das alles, was Sie uns zu sagen haben?»
Fräulein Honig starrte in die feuchten grauen Augen der anderen Frau, und sie ließ das Schweigen sich so lange ausdehnen, bis es Frau Wurmwald unbehaglich wurde. «Wünschen Sie, daß ich den Grund meines Kommens erkläre?» fragte Fräulein Honig.
«Schießen Sie los», sagte Frau Wurmwald.
«Sie wissen sicher», begann Fräulein Honig, «daß man von Kindern, die gerade eingeschult werden, nicht erwartet, daß sie schon lesen oder buchstabieren oder mit Zahlen umgehen. Fünfjährige können das nicht. Matilda aber kann das alles. Und wenn ich ihr glauben darf...»
«Würd ich nie», sagte Frau Wurmwald. Sie war immer noch wütend, weil sie den Ton im Fernsehen nicht mitkriegte.
«Hat sie etwa gelogen», fragte Fräulein Honig, «als sie mir sagte, daß ihr keiner das Multiplizieren oder das Lesen beigebracht hat? Hat sie einer von Ihnen unterrichtet?»
«Was unterrichtet?» fragte Herr Wurmwald.
«Lesen. Bücher lesen», sagte Fräulein Honig. «Vielleicht haben Sie sie ja unterrichtet. Vielleicht hat sie geschwindelt. Vielleicht ist Ihr ganzes Haus voller Bücher und Bücherregale. Das kann ich nicht wissen. Vielleicht sind Sie beide ja große Leser.»
«Natürlich lesen wir», antwortete Herr Wurmwald. «Reden Sie doch keinen Kokolores. Ich lese jede Woche das ‹Auto› und ‹Der Motor› von vorne bis hinten durch.»
«Das Kind hat bereits eine erstaunliche Anzahl an Büchern gelesen», fuhr Fräulein Honig fort. «Ich wollte nur in Erfahrung bringen, ob sie aus einer Familie kommt, in der gute Literatur geschätzt wird.»
«Also vom Bücherlesen halten wir nicht viel», sagte Herr Wurmwald. «Man kann’s zu nichts bringen, wenn man nur auf seinen vier Buchstaben hockt und Geschichtenbücher liest. So was haben wir nicht im Hause.»
«Aha», sagte Fräulein Honig, «nun, ich wollte Ihnen nur berichten, daß Matilda hochbegabt ist. Aber das wissen Sie vermutlich schon längst.»
«Daß sie lesen kann, das weiß ich schon», sagte die Mutter, «sie steckt Tag und Nacht oben in ihrem Zimmer und vergräbt sich in irgendwelchen blöden Büchern.»
«Aber ist es Ihnen nicht aufgefallen», fragte Fräulein Honig, «daß ein kleines fünfjähriges Kind dicke Bücher für Erwachsene von Dickens und Hemingway liest? Reißt Sie das nicht vor Aufregung aus dem Sessel?»
«Eigentlich nicht», antwortete die Mutter. «Von Blaustrümpfen halt ich nicht viel. Ein Mädchen sollte über sein Aussehen nachdenken und wie es attraktiv wird, damit es später einen guten Mann erwischt. Das Aussehen ist viel wichtiger als Bücher, Fräulein Marmelade...»
«Mein Name ist Honig», sagte Fräulein Honig.
«Also schauen Sie doch mich an», fuhr Frau Wurmwald fort, «und dann schauen Sie sich an. Sie haben sich für die Bücher entschieden. Ich fürs gute Aussehen.»
Fräulein Honig betrachtete sich die dicke dumme Person mit dem Puddinggesicht, die ihr gegenübersaß. «Was haben Sie gesagt?» fragte sie.
«Ich sagte, Sie hätten Bücher gewählt und ich das Aussehen», wiederholte Frau Wurmwald. «Und wer hat das Bessere erwischt? Ich natürlich. Ich sitze gemütlich in einem hübschen Haus mit einem erfolgreichen Geschäftsmann, und Sie müssen sich abschuften, um einer Horde von gräßlichen kleinen Rangen das Abc einzubleuen.»
«Ganz recht, Zuckerpfläumchen», sagte Herr Wurmwald und bedachte seine Frau mit einem so affektierten und dreckigen Grinsen, daß es ein Pferd zum Kotzen hätte bringen können.
Fräulein Honig kam zu dem Schluß, daß sie ihre Beherrschung nicht verlieren durfte, wenn sie mit diesen Leuten zu irgendeinem Ergebnis gelangen wollte. «Ich habe Ihnen noch nicht alles berichtet», sagte sie. «So weit ich es in diesem frühen Stadium übersehen kann, ist Matilda auch eine Art mathematisches Genie. Sie kann in Blitzgeschwindigkeit hohe Zahlen miteinander multiplizieren.»
«Was hat das für einen Sinn, wenn’s überall Taschenrechner zu kaufen gibt?» fragte Herr Wurmwald.
«Ein Mädchen kriegt keinen Mann, wenn es auf gescheit macht», stellte Frau Wurmwald fest. «Schauen Sie sich zum Beispiel diese Filmstars an», setzte sie hinzu, indem sie auf den schweigenden Bildschirm deutete, wo ein weibliches Wesen mit schwellendem Busen im Mondschein von einem markigen Mimen umarmt wurde. «Bilden Sie sich etwa ein, den hätt sie sich geschnappt, wenn sie ihm was vormultipliziert hätte? Also wirklich nicht. Und jetzt wird sie heiraten, das werden Sie schon sehen, und dann lebt sie in einem Herrenhaus mit einem Butler und ganzen Scharen von Dienstmädchen.»
Fräulein Honig konnte kaum glauben, was sie da hörte. Sie hatte zwar schon davon gelesen, daß es solche Eltern im ganzen Lande gab und daß sich ihre Kinder zu Verbrechern und Taugenichtsen entwickelten, aber es wirkte wie ein Schock, so ein Elternpaar in Fleisch und Blut zu treffen.
«Das Problem für Matilda», setzte sie noch einmal an, «liegt darin, daß sie allen anderen in ihrer Umgebung so weit voraus ist. Daher würde es sich vielleicht lohnen, über so etwas wie private Förderstunden nachzudenken. Wenn sie richtig angeleitet würde, so glaube ich in allem Ernst, daß sie innerhalb von zwei oder drei Jahren zur Universitätsreife gebracht werden könnte.»
«Universität?» schrie Herr Wurmwald und fuhr in seinem Sessel hoch. «Wer will denn um des Himmels willen auf die Universität? Alles was sie da lernen ist Faulenzen und Randalieren.»
«Das stimmt nicht», widersprach Fräulein Honig. «Wenn Sie in diesem Augenblick einen Herzinfarkt hätten und nach einem Arzt riefen, so hätte dieser Arzt eine Universität absolviert. Wenn Sie Ärger kriegten, weil Sie jemandem einen miserablen Gebrauchtwagen verkauft haben, so müßten Sie sich einen Rechtsanwalt nehmen, und auch der hätte an einer Universität studiert. Sie dürfen gebildete Menschen nicht verachten, Herr Wurmwald. Aber ich sehe schon, daß wir uns nicht einigen werden. Es tut mir leid, daß ich so bei Ihnen hereingeplatzt bin.» Fräulein Honig erhob sich und schritt aus dem Zimmer.
Herr Wurmwald folgte ihr bis zur Haustür und sagte: «Nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind, Fräulein Hering, oder war es Fräulein Hühnchen?»
«Keins von beiden», entgegnete Fräulein Honig, «aber das macht nichts.» Und damit entschwand sie.
HammerwurfDas Nette an Matilda war: wenn man sie zufällig traf und sich mit ihr unterhielt, hätte man sie für ein vollkommen normales fünfeinhalbjähriges Kind gehalten. Fast nichts deutete auf ihre Begabung hin, und sie gab auch niemals an. «Das ist ein sehr vernünftiges und ruhiges kleines Mädchen», hättest du dir gesagt. Und wenn du sie nicht aus irgendeinem Grunde in eine Diskussion über Literatur oder Mathematik verwickelt hättest, so wäre dir das Ausmaß ihres Verstandes gar nicht klargeworden.
Es fiel Matilda deshalb leicht, sich mit anderen Kindern anzufreunden. Alle in ihrer Klasse mochten sie gern. Sie wußten natürlich, daß sie «klug» war, weil sie das in dem Gespräch mit Fräulein Honig am ersten Schultag gehört hatten. Und sie wußten auch, daß sie während des Unterrichts schweigend mit einem Buch dasitzen durfte und nicht auf die Lehrerin zu achten brauchte. Aber Kinder in diesem Alter gehen den Dingen nicht genau auf den Grund. Sie sind so sehr mit ihren eigenen kleinen Problemen befaßt, daß sie sich nicht sonderlich darum kümmern, was die anderen treiben und warum.
Unter Matildas neuen Freunden war ein Mädchen namens Lavendel. Schon am allerersten Schultag hatten die beiden begonnen, in der kleinen und in der großen Pause miteinander auf den Schulhof zu gehen. Lavendel war für ihr Alter außergewöhnlich klein, eine zarte dünne Elfe mit dunkelbraunen Augen und dunklen Haaren, die ihr in Simpelfransen über die Stirn fielen. Matilda mochte sie gern, weil sie Schwung und Mut besaß und Abenteuer liebte. Und genau aus denselben Gründen mochte Lavendel Matilda.
Schon in der ersten Woche ihrer Schulzeit begannen sich bei den Abc-Schützen gräßliche Geschichten über Fräulein Knüppelkuh, die Direktorin, zu verbreiten. Als Matilda und Lavendel am dritten Tag in der kleinen Pause in einem Winkel des Schulhofs standen, näherte sich ihnen eine schlampige Zehnjährige, die Hortensia hieß und einen Pickel auf der Nase hatte. «Neuer Nachschub, was?» bemerkte Hortensia und schaute von ihrer großen Höhe zu ihnen hinab. Sie schüttelte eine extragroße Tüte Kartoffelchips und stopfte sich das Zeugs mit vollen Händen in den Mund. «Willkommen in der Besserungsanstalt für jugendliche Schwerverbrecher», setzte sie hinzu, und dabei stoben die Krümel wie Schneegestöber aus ihrem Mund.
Die beiden Kleinen wahrten im Angesicht dieser Riesin ein wachsames Schweigen.
«Seid ihr schon an die Knüppelkuh geraten?» fragte Hortensia.
«Wir haben sie beim Morgengebet gesehen», antwortete Lavendel, «aber getroffen haben wir sie noch nicht.»
«Na, da habt ihr ja noch was Schönes vor euch», sagte Hortensia. «Kleine Kinder kann sie nicht ausstehen. Deshalb findet sie die erste Klasse zum Kotzen. Sie findet, Fünfjährige sind Maden oder Raupen, die noch nicht ausgeschlüpft sind.» Rein mit der nächsten Hand Kartoffelchips und, als sie den Mund wieder aufklappte, raus das nächste Krümelgestöber. «Wenn ihr das erste Jahr hier überlebt, dann schafft ihr’s vielleicht grade, euch durch den Rest eurer Zeit hier durchzumogeln. Aber viele überleben erst gar nicht. Sie werden auf Bahren rausgetragen, heulend und schreiend. Hab ich oft gesehen.» Hortensia hielt inne, um zu überprüfen, wie diese Bemerkungen auf die beiden Fliegengewichte wirkten. Sie kamen ihr ziemlich ungerührt vor. Also beschloß die Große, sie mit weiteren Informationen zu füttern.
«Wahrscheinlich wißt ihr ja, daß die Knüppelkuh in ihrer Wohnung einen verschlossenen Schrank hat, den man den Luftabschneider nennt. Habt ihr schon vom Luftabschneider gehört?»
Matilda und Lavendel schüttelten den Kopf und starrten unverwandt zu der Riesin empor. Weil sie so klein waren, neigten sie dazu, allen Geschöpfen zu mißtrauen, die sie überragten, vor allem älteren Schulmädchen.
«Der Luftabschneider», fuhr Hortensia fort, «ist ein sehr hoher, aber ganz schmaler Schrank. Der Boden ist knapp einen halben Meter breit, man kann sich also nicht hinsetzen und hinhocken auch nicht. Man muß stehen. Und drei von den Wänden sind aus Zement mit lauter Glasscherben, die überall rausragen, man kann sich also nicht anlehnen. Wenn man da eingesperrt wird, muß man die ganze Zeit stehen, kerzengerade stehen. Das ist fürchterlich.»
«Kann man sich nicht an die Tür lehnen?» fragte Matilda.
«Sei nicht so blöd», sagte Hortensia. «Die Tür ist mit tausend scharfen Nagelspitzen gespickt. Sie sind von draußen durchgehämmert, wahrscheinlich höchstpersönlich von der Knüppelkuh.»
«Bist du da schon mal dringewesen?» fragte Lavendel.
«In der ersten Klasse sechsmal», antwortete Hortensia, «zweimal einen ganzen Tag und die andern Male jedesmal zwei Stunden. Aber zwei Stunden sind schon schlimm genug. Es ist stockfinster, und man muß kerzengerade stehen und darf sich nicht rühren, und wenn man wackelt, zerfleischt man sich entweder an den Glasscherben in den Wänden oder an den Nägeln in der Tür.»
«Warum bist du denn eingesperrt worden?» fragte Matilda. «Was hast du gemacht?»
«Beim erstenmal», erzählte Hortensia, «hab ich eine halbe Dose Ahornsirup auf den Sitz von dem Stuhl gekippt, auf dem die Knüppelkuh beim Morgengebet immer sitzt. Es war wunderbar. Als sie sich auf dem Stuhl niedergelassen hat, da gab’s so ein Quatschen, wie es ein Rhinozeros macht, wenn es mit seinen Füßen in den Uferschlamm des Flusses Limpopo hineinstampft. Aber ihr seid ja zu klein und zu dumm, als daß ihr schon die ‹Geschichten für den allerliebsten Liebling› von Kipling gelesen hättet. Stimmt’s?»
«Ich hab sie gelesen», antwortete Matilda.
«Du bist eine Hochstaplerin», sagte Hortensia freundlich, «du kannst ja noch nicht einmal lesen. Aber was soll’s. Als sich also die Knüppelkuh auf den Ahornsirup setzte, schmatzte der Quatsch ganz wunderbar, und als sie wieder aufsprang, klebte der Stuhl sozusagen am Hosenboden dieser grauenhaften grünen Säcke fest, die sie immer trägt, und stieg mit ihr ein paar Sekunden in die Höhe, bis der zähe Sirup langsam nachgab. Und dann fuhr sie mit den Händen an ihr Hosenhinterteil, und schon hatte sie sich alle beiden Hände mit dem Kleisterzeugs verschmiert. Ihr hättet mal hören sollen, wie sie geheult hat.»
«Aber woher hat sie denn gewußt, daß du das warst?» fragte Lavendel.
«Ein kleiner Mistkerl namens Ole Sumpfblase hat mich verpfiffen», antwortete Hortensia. «Ich hab ihm die Vorderzähne eingeschlagen.»
«Und die Knüppelkuh hat dich für einen ganzen Tag im Luftabschneider eingesperrt?» fragte Matilda mit großen Augen.
«Den ganzen Tag lang», entgegnete Hortensia. «Ich war fix und fertig, als sie mich rausließ. Ich hab wie ein Idiot geröchelt und gesabbert.»
«Und was war das andere, wofür du in den Luftabschneider gesteckt worden bist?» fragte Lavendel.
«Ach, an alles kann ich mich gar nicht erinnern», sagte Hortensia. Sie redete wie ein alter Krieger, der so viele Schlachten geschlagen hat, daß ihm Heldenmut ganz selbstverständlich ist. «Das ist alles so lange her», setzte sie hinzu und warf sich eine neue Ladung Kartoffelchips in den Mund. «Ah ja, eins fällt mir noch ein. Also, da ist folgendes passiert. Ich hab mir genau den Zeitpunkt ausgesucht, wo ich gewußt hab, die Knüppelkuh war weg und aus dem Weg und gab in der sechsten Klasse Unterricht, da hab ich mich also gemeldet und gefragt, ob ich mal austreten darf. Aber statt daß ich dahingegangen bin, hab ich mich ins Zimmer von der Knüppelkuh geschlichen. Dann hab ich gesucht, in rasender Eile, und hab auch die Schublade gefunden, in der sie all ihre Turnhosen aufbewahrt.»