Roald Dahl - Matilda
Das Wasser und der zappelnde Molch ergossen sich auf Fräulein Knüppelkuhs gewaltigen Busen. Die Schulleiterin stieß einen Schrei aus, der auch den letzten Dachziegel auf dem ganzen Haus zum Klappern gebracht haben mußte, und schoß zum zweitenmal in den letzten fünf Minuten wie eine Rakete von ihrem Stuhl. Der Molch klammerte sich verzweifelt an dem Baumwollkittel fest, der den enormen Brustkasten umhüllte, und blieb dort mit seinen kleinen feuchten Klauen kleben. Die Knüppelkuh schaute nach unten, sah ihn, heulte womöglich noch lauter und wischte ihn mit einer einzigen Handbewegung ab, so daß das Tier quer durch den Klassenraum flog. Es landete neben Lavendels Pult, die sich geschwind bückte, es aufhob und zum zweitenmal in ihren Griffelkasten steckte. Es ist doch sehr nützlich, dachte sie bei sich, immer einen Wassermolch bei der Hand zu haben.
Die Knüppelkuh, deren Gesicht mehr denn je einem gekochten Schinken ähnelte, stand vor der Klasse und zitterte vor Zorn. Ihr gewaltiger Busen hob und senkte sich, und das Wasser, das ihr vorn heruntergelaufen war, hatte einen dunklen feuchten Fleck hinterlassen und sie vermutlich bis auf die Haut durchnäßt.
«Wer war das?» brüllte sie. «Los, los! Raus damit! Tritt heraus! Diesmal entkommst du mir nicht! Wer ist für diese Schweinerei verantwortlich? Wer hat das Glas umgestoßen?»
Keiner gab eine Antwort. Im ganzen Klassenzimmer herrschte Grabesstille.
«Matilda!» rief sie. «Das bist du gewesen! Ich weiß es genau, daß du es warst!»
Matilda saß auf ihrem Platz in der zweiten Reihe vollkommen reglos da und sagte kein Wort. Ein sonderbares Gefühl tiefer Ruhe und Sicherheit senkte sich über sie, und plötzlich merkte sie, daß sie sich vor nichts und niemandem auf der Welt mehr fürchtete. Nur mit der Kraft ihrer Augen hatte sie ein Glas Wasser zum Umkippen gebracht, so daß sich sein Inhalt auf diese fürchterliche Schulleiterin ergoß, und wer das vermochte, der konnte alles.
«Mach den Mund auf, du Eiterbeule!» dröhnte die Knüppelkuh. «Gib zu, daß du es warst!»
Matilda schaute direkt in die funkelnden Augen dieses wutschnaubenden Riesenweibs und sagte in aller Seelenruhe: «Seit Anfang dieser Schulstunde habe ich mich nicht von meinem Pult entfernt, Fräulein Knüppelkuh. Mehr kann ich dazu nicht sagen.»
Plötzlich schien sich die ganze Klasse gegen die Schulleiterin zu verbünden. «Sie hat sich nicht gerührt!» riefen sie. «Matilda hat sich nicht gerührt. Keiner hat sich gerührt! Sie müssen es selber getan haben!»
«Ich habe es ganz bestimmt nicht selber umgestoßen!» fauchte die Knüppelkuh. «Wie könnt ihr es nur wagen, so was zu behaupten! Und jetzt den Mund aufgemacht, Fräulein Honig. Sie müssen alles gesehen haben! Wer hat mein Glas umgestoßen?»
«Keins der Kinder, Fräulein Knüppelkuh», antwortete Fräulein Honig. «Ich kann beschwören, daß sich keiner von seinem Platz entfernt hat, seitdem Sie die Klasse betreten haben, außer Nigel, und der hat sich in seiner Ecke nicht gerührt.»
Fräulein Knüppelkuh glotzte Fräulein Honig an. Fräulein Honig hielt dem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. «Ich sage die Wahrheit, Frau Rektorin», fuhr sie fort. «Sie müssen es umgestoßen haben, ohne daß Sie es gemerkt haben. So etwas kann einem leicht passieren.»
«Ich hab die Nase voll von dieser Horde von Nichtsnutzen!» brüllte die Knüppelkuh. «Ich denke gar nicht daran, meine kostbare Zeit hier weiter zu verplempern!» Damit marschierte sie aus dem Klassenzimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
In dem betäubten Schweigen, das ihrem Abgang folgte, schritt Fräulein Honig vor die Klasse und stellte sich hinter ihren Tisch. «Puh», sagte sie, «ich glaube, für heute haben wir genug gelernt, findet ihr nicht auch? Der Unterricht ist zu Ende. Ihr könnt alle hinaus auf den Schulhof laufen und dort warten, bis euch eure Eltern abholen.»
Das zweite WunderMatilda schloß sich nicht ihren Mitschülern an, die losstürmten und sich aus dem Klassenzimmer drängelten. Auch nachdem die anderen Kinder verschwunden waren, blieb sie noch ganz ruhig und in sich versunken vor ihrem Pult sitzen. Sie wußte, daß sie jemandem von dem erzählen mußte, was mit dem Glas geschehen war. Es war ihr unmöglich, so ein riesenhaftes Geheimnis in sich zu verschließen. Sie brauchte nur einen einzigen Menschen, einen klugen und mitfühlenden Erwachsenen, der ihr helfen konnte, die Bedeutung dieser außergewöhnlichen Vorgänge zu begreifen.
Weder ihre Mutter noch ihr Vater wären in diesem Fall von Nutzen. Selbst wenn sie ihr diese Geschichte glaubten, und daran zweifelte sie sehr stark, würde ihnen ganz bestimmt entgehen, was für ein erstaunliches Ereignis an diesem Nachmittag in der Klasse stattgefunden hatte. Einer plötzlichen Eingebung folgend, erkannte Matilda, daß der einzige Mensch, dem sie sich gern anvertrauen würde, Fräulein Honig war.
Matilda und Fräulein Honig waren nun die einzigen, die sich noch im Klassenzimmer befanden. Fräulein Honig hatte sich an ihren Tisch gesetzt und blätterte einige Unterlagen durch. Sie blickte auf und sagte: «Nanu, Matilda, willst du nicht mit den anderen hinaus?»
Matilda erwiderte: «Darf ich mich bitte einen Augenblick mit Ihnen unterhalten?»
«Selbstverständlich. Was bedrückt dich denn?»
«Es ist etwas ganz Merkwürdiges mit mir passiert, Fräulein Honig.»
Fräulein Honig spitzte sofort die Ohren. Seit den beiden unglückseligen Zusammenkünften, die sie kürzlich wegen Matilda gehabt hatte – zuerst mit der Schulleiterin und dann mit dem grauenhaften Ehepaar Wurmwald –, hatte Fräulein Honig ununterbrochen über dieses Kind nachdenken müssen und sich gefragt, wie sie ihm wohl helfen könnte. Und jetzt saß Matilda mit einer sonderbar entrückten Miene vor ihr und bat um eine private Unterredung. Fräulein Honig hatte sie noch nie so überdreht und mit so weit aufgerissenen Augen erlebt.
«Also gut, Matilda», sagte sie, «erzähl mir, was dir Merkwürdiges zugestoßen ist.»
«Fräulein Knüppelkuh wird mich doch nicht von der Schule werfen, nicht wahr?» fragte Matilda. «Denn ich hab ihr dieses Tier wirklich nicht in den Wasserkrug getan. Ich schwöre, daß ich’s nicht gewesen bin.»
«Ich weiß, daß du es nicht warst», sagte Fräulein Honig.
«Werd ich also rausgeschmissen?»
«Ich glaube nicht», antwortete Fräulein Honig. «Die Frau Rektorin hat sich nur ein bißchen aufgeregt, das war alles.»
«Gut», fuhr Matilda fort, «aber darüber wollte ich nicht mit Ihnen reden.»
«Worüber willst du denn mit mir reden?»
«Ich möchte mit Ihnen über das Wasserglas reden, in dem das Tier war», sagte Matilda. «Sie haben doch gesehen, wie es auf Fräulein Knüppelkuh kippte, nicht wahr?»
«Und ob ich das gesehen habe.»
«Also, Fräulein Honig, ich habe es nicht angerührt. Ich bin nicht einmal in seine Nähe gekommen.»
«Das weiß ich», sagte Fräulein Honig. «Du hast ja gehört, wie ich der Frau Rektorin gesagt habe, daß du es keineswegs gewesen sein kannst.»
«Ja, aber ich bin es gewesen, Fräulein Honig», sagte Matilda. «Genau darüber möchte ich mich mit Ihnen unterhalten.»
Fräulein Honig hielt inne und musterte das Kind gedankenvoll.
«Ich glaube, ich kann dir nicht folgen», sagte sie.
«Ich bin so wütend gewesen, weil sie mir was in die Schuhe schieben wollte, wofür ich nichts kann, daß ich es habe passieren lassen.»
«Du hast was passieren lassen, Matilda?»
«Ich hab das Glas umkippen lassen.»
«Ich begreife immer noch nicht ganz, was du damit sagen willst», bemerkte Fräulein Honig mit sanfter Stimme.
«Ich hab’s mit meinen Augen gemacht», sagte Matilda. «Ich hab es angestarrt und hab mir gewünscht, daß es umkippt, und dann sind meine Augen ganz heiß und komisch geworden, und so was wie eine Kraft ist aus ihnen hervorgebrochen, und dann ist das Glas einfach umgefallen.»
Fräulein Honig betrachtete Matilda unverwandt durch ihre Stahlbrille, und Matilda erwiderte ihren Blick ebenso fest und unverwandt.
«Ich kann dir immer noch nicht folgen», sagte Fräulein Honig. «Meinst du wirklich, daß du das Glas mit deinen Augen dazu gebracht hast umzustürzen?»
«Ja», erwiderte Matilda, «mit meinen Augen.»
Fräulein Honig schwieg einen Augenblick. Sie glaubte nicht, daß ihr Matilda einen Bären aufband. Es kam ihr wahrscheinlicher vor, daß Matildas lebhafte Einbildungskraft mit ihr durchging. «Willst du damit sagen, daß du so wie jetzt an deinem Platz gesessen und dem Glas gesagt hast, es solle umkippen, und es ist wirklich umgekippt?»
«Ja, Fräulein Honig, irgendwie so.»
«Wenn du das getan hast, dann ist das ungefähr das größte Wunder, das ein Mensch seit Christi Zeiten bewirkt hat.»
«Ich hab’s aber gemacht, Fräulein Honig.»
Es ist wirklich erstaunlich, dachte Fräulein Honig, wie oft kleine Kinder solche Anfälle von Phantasie haben. Sie entschied, die Angelegenheit so leichthin wie möglich zu beenden. «Könntest du das wohl wiederholen?» fragte sie, nicht unfreundlich.
«Ich weiß nicht», antwortete Matilda, «aber ich glaube, ich könnte es schaffen.»
Fräulein Honig schob das jetzt leere Glas mitten auf den Tisch. «Soll ich Wasser hineingießen?» fragte sie mit einem kleinen Lächeln.
«Ich glaube, das spielt keine Rolle», erwiderte Matilda.
«Na gut. Fang an und kipp es um.»
«Vielleicht dauert es aber etwas.»
«Laß dir soviel Zeit, wie du brauchst», entgegnete Fräulein Honig, «ich bin nicht in Eile.»
Matilda, die in ihrer zweiten Reihe ungefähr drei Meter von Fräulein Honig entfernt war, stemmte die Ellbogen auf das Pult und legte das Gesicht in ihre Hände. Diesmal gab sie gleich zu Beginn den Befehl: «Kippe, Glas, kippe!», wobei sie ihre Lippen jedoch nicht bewegte und keinen Laut von sich gab. Sie rief die Wörter einfach innen in ihrem Kopf. Und dann konzentrierte sie all ihre Gedanken und ihren Verstand und ihren Willen auf ihre Augen, und abermals, aber viel rascher als zuvor, spürte sie, wie sich die Elektrizität zusammenballte, wie die Kraft anschwoll und die Hitze ihr in die Augäpfel stieg, und dann schossen die Millionen winziger unsichtbarer Arme, an denen Hände saßen, aus ihnen heraus und auf das Glas zu, und ohne einen Laut von sich zu geben, schrie sie das Glas an, es solle umkippen. Sie sah, wie es schwankte, sich dann zur Seite neigte und schließlich einfach umkippte und mit einem leisen Klirren auf die Tischplatte fiel, keine Handbreit von Fräulein Honigs verschränkten Armen entfernt.
Fräulein Honigs Mund klappte auf, und sie riß ihre Augen so weit auf, daß man das Weiße ringsum sehen konnte. Sie sagte kein einziges Wort. Sie konnte es einfach nicht. Der Schock, die Zeugin eines Wunders zu sein, hatte ihr die Sprache geraubt. Sie starrte das Glas an und wich zurück, als ob es etwas Gefährliches wäre. Dann hob sie langsam den Kopf und schaute Matilda an. Sie sah das Kind, sah sein weißes Gesicht, weiß wie ein Leintuch, sah, wie es am ganzen Leib bebte und mit starren Augen geradeaus ins Leere schaute und nichts wahrnahm. Sein ganzes Gesicht hatte sich verändert, die Augen waren kugelrund und strahlten, und es saß sprachlos da, richtig schön, in einem Glanz aus Schweigen.
Fräulein Honig wartete geduldig, sie zitterte und bebte selbst etwas, und sie ließ das Kind nicht aus den Augen, während es sich langsam ins Bewußtsein zurückbewegte. Und dann plötzlich, klick, erstrahlte eine fast himmlische Ruhe auf seinem Gesicht. «Mir geht’s gut», sagte Matilda und lächelte, «mir geht’s wirklich gut, Fräulein Honig. Sie brauchen sich nicht zu erschrecken.»
«Es kam mir so vor, als wärst du ganz weit weg gewesen», flüsterte Fräulein Honig ehrfürchtig.
«Ach, das war ich auch. Ich bin auf silbernen Schwingen weit hinter den Sternen geflogen», sagte Matilda, «es war wunderbar.»
Fräulein Honig starrte das Kind immer noch in tiefem Staunen an, als ob es die Schöpfung wäre, der Anfang der Welt, der erste Morgen.
«Diesmal ging’s viel schneller», bemerkte Matilda ruhig.
«Das ist doch nicht möglich!» keuchte Fräulein Honig. «Ich kann es nicht glauben! Ich kann es einfach nicht glauben!» Sie kniff die Augen zu und hielt sie ziemlich lange geschlossen, und als sie sie wieder aufschlug, schien sie ihre Fassung zurückgewonnen zu haben. «Würdest du wohl gerne Tee mit mir in meinem kleinen Häuschen trinken?» fragte sie.
«O ja, furchtbar gern», antwortete Matilda.
«Gut. Dann räum deine Sachen zusammen. In ein paar Minuten treffen wir uns draußen.»
«Aber Sie werden doch keinem davon erzählen... Von dem, was ich gemacht hab, nicht wahr, Fräulein Honig?»
«Ich denke nicht im Traum daran», antwortete Fräulein Honig.
Fräulein Honigs HäuschenFräulein Honig gesellte sich draußen vor den Schultoren zu Matilda, und die beiden schritten schweigend die Hauptstraße des Ortes entlang. Sie gingen am Obst- und Gemüseladen mit seiner Auslage voll Orangen und Äpfeln vorbei, am Fleischer mit seinem Angebot von blutigen Fleischstücken und aufgehängten gerupften Hühnern, an der kleinen Bank, am Lebensmittelladen und am Elektriker, und dann kamen sie am anderen Ende der Stadt bei der schmalen Landstraße heraus, wo kein Mensch mehr zu sehen war und auch kaum Verkehr herrschte.
Und jetzt, wo sie vollkommen allein waren, wurde Matilda plötzlich wild und ausgelassen. Sie führte sich auf, als ob in ihrem Innersten ein Damm gebrochen wäre und einen gewaltigen Schwall von Lebenskraft freigegeben hätte. Sie hüpfte und hopste wie toll neben Fräulein Honig her, ihre Finger flatterten in der Luft, als ob sie sie in alle vier Himmelsrichtungen schnicken wollte, und die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus, so geschwind wie davonzischende Feuerwerksraketen. Es war Fräulein Honig dies und Fräulein Honig das – «Fräulein Honig, ich glaub ganz bestimmt, daß ich fast alles auf der Welt in Bewegung setzen könnte, nicht nur Wassergläser und solchen anderen Kleinkram... Ich hab das Gefühl, daß ich Tische und Stühle umstürzen könnte, Fräulein Honig... Selbst wenn noch wer auf den Stühlen säße, selbst dann glaub ich sicher, daß ich sie umstoßen könnte, und größere Sachen auch, viel größere Sachen als Tische und Stühle... Ich brauch nur einen Augenblick, um meine Augen stark zu machen, und dann kann ich damit zustoßen, mit dieser Stärke, gegen einfach alles, ich muß es nur lange genug ganz fest anschauen... Ich muß es regelrecht anstarren, Fräulein Honig, ganz, ganz fest, und dann merke ich, was da alles hinter meinen Augen passiert, und meine Augen werden so heiß, als ob sie glühten, aber das macht mir nichts aus, nicht im geringsten, und, Fräulein Honig...»